In Deutschland alleine, leiden ca. 10 Millionen Menschen darunter. Der Großteil dieser Patienten leidet an dem Hallux Valgus. Diese Fußfehlstellung geht mit Schmerzen einher. Das Tragen vom festen Schuhwerk wird zur Qual.
In den Anfangsstadien können, Schuheinlagen oder das nächtliche tragen von Hallux-Orthesen, den Schmerz lindern oder evtl. den Hallux wieder begradigen. In fortgeschrittenen Stadien nimmt eine Versteifung in der Fehlstellung bis zur Kontraktur zu, so dass erst eine operative Behandlung dies korrigieren kann.
In diesen Stadien sind die Betroffenen bereits im Alltag durch ihren Ballenzeh beeinträchtigt. Der deformiert hervorstehende Zehenballen drückt sich schmerzhaft gegen den Schuh. Die Beweglichkeit wird eingeschränkt und die Betroffenen haben keine Freude mehr am Gehen.
Die Gelenkkapsel leidet zunehmend darunter. Sie schwellt im Rahmen des geschwollenen Grundgelenkes an und wird immer dünner und schwächer.
Auch die, durch den verdrehten Großzehen gedrückten Kleinzehen, werden mit der Zeit zu Hammer- und Krallenzehen deformiert und schmerzen zusätzlich. Diese Transfermetatarsalgie erklärt die negativen Veränderungen beim Gehen.
Betroffene verlagern ihr Gewicht immer mehr auf die kleineren Zehen, als Folge können Schmerzen im gesamten Vorderfuß entstehen. Auch eine Überlastung von benachbarten Gelenken ist nicht ausgeschlossen. Oft klagen Betroffene über Sprung- und Kniegelenkschmerzen.
Bei älteren Menschen kommt hinzu, dass Fußbeschwerden zu mehr Gangunsicherheiten und Stürze führen.
Der Ästhetische Aspekt kommt hinzu, so dass Patienten im mittleren und späteren Stadien den Empfehlungen der Ärzte folgen und sich zu einer Operation entschließen.
Die Kunst des Chirurgen ist, dem Patienten so soweit wie möglich seinen Gesundheitszustand wiederherzustellen (Restitutio ad integrum). Schmerzfreiheit und die Freude am Gehen stehen im Vordergrund.
Die 63 jährige Marlene Peters (Name geändert) hat ihre Hallux Valgus Operation erfolgreich überstanden. Unmittelbar nach dem Eingriff klagt sie über ständige und wechselhaft starke Schmerzen im operierten rechten Fuß. Der Schmerz strahlt vom Operationsbereich in den gesamten Fuß aus. Sie konsultierte mehre Orthopäden, Chirurgen und Gefäßdiagnostiker.
Da eine mittelbare organische Ursache nicht gesichert werden konnte, wurde sie bei einer Psychiaterin vorstellig, die eine eindeutige psychogene Überlagerung nicht nachvollziehen konnte. Auf Grunddessen erfolgte die neurologische Vorstellung mit der Verdachtsdiagnose Tarsaltunnelsyndrom. Sie beschrieb ein Ziehen im gesamten Fuß mit Ausstrahlung bis in die Wade. Sie spürte zeitweise Kribbeln im Vorderfuß mit brennenden Gefühlen.
Patienten mit Tarsaltunnelsyndrom klagen meist über teilweise schießende Schmerzen im Bereich des Fußinnenknöchels. Unter Belastung des Fußes wird ein Schmerzen und kribbeln bis in die Zehen beschrieben, in den Vorderfuß strahlt ein brennendes Gefühl aus. Ein Ziehen bis in die Waden ist möglich.
Neurologisch waren die Befunde bei Frau Peters unauffällig. Die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit konnte die Vermutung eines Tarsaltunnelsyndroms nicht bestätigen. Die Fußgelenke waren nicht druckschmerzhaft.
Tarsaltunnnsyndrom bezeichnet einen Engpass des Nervus tibialis in seinem Verlauf in einem Kanal (Tarsaltunnel) hinter dem medialen Bereich des Sprunggelenkes. Eine Verengung führt zu einer Nervenreizung bis hin zur Schädigung und geht mit Taubheitsgefühlen und Schmerzen im Bereich der Verzweigungen des Nervs im Fuß einher. Eine solche Verengung wurde bei Frau Peters nicht nachgewiesen.
Also, worunter leidet Frau Peters?
Das Gespräch zwischen Arzt und Patient ist der Schlüssel für den Behandlungserfolg.
Durch die gezielte Anamnese wird das Verstehen erst möglich. Fragen über Schmerzqualität und Lokalisation, begleitende Missempfindungen, Auslöser, der Dauer und das zeitliche Auftreten dieser Schmerzphasen sowie Fragen zu den selbstinitiierten Mechanismen, um die Beschwerden zu lindern, können in einem offenen Gespräch die Diagnose begründen.
Dass die Beschwerden von Frau Peters in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der durchgeführten Operation erlebt werden, kann medizinisch betrachtet zu einer nachvollziehbaren Deutungsirritation führen.
Ein eindimensionales Auskundschaften eines (wichtigen) Merkmals oder mehreren kategorialen Eigenschaften einer Erkrankung kann dazu führen, dass die Aufmerksamkeit des Untersuchers vordergründig auf Störfaktoren oder Krankheitsprozessen fokussiert werden.
Schnell kann es in so einem Kontext zu Missvertändnissen kommen. Nicht der Leidende, sondern seine Beschwerden rücken in den Mittelpunkt des diagnostisch-therapeutisch Bemühens. Hiernach wird der Leidende im objektiven Segment postiert. Statt Beziehungsaufbau wird in diesem Bezugsrahmen das erworbene und das erfahrene Wissen dominieren – viel Wissen im beziehungsleeren Raum. In solchen Situationen bleibt wenig Spielraum für die therapeutisch unabdingbare Intersubjektivität und Individualität. Um das Wissen professionell anwenden zu können, muss ein Beziehungsrahmen geschaffen werden.
Was kann ich als Patient für eine optimale Anamnese beitragen?
Der informierte Patient sollte nicht nur Gelegenheiten der multiplen, teilweise irreführenden Informationen nutzen.
Eine Überflutung von Informationen bedeutet nicht automatisch ein nützliches Wissen. Patienten sollten sich vordergründig auf das geplante und das wichtige Arzt-Patient-Gespräch vorbereiten. Das Gespräch hat eine außerordentliche Bedeutung und ist selbst das wichtigste und zielführendste Instrumentarium. Das Gespräch beeinflusst in großem Maße nachhaltig die nachfolgenden Schritte der effizienten Diagnostik und der geeigneten Therapie.
Ich bereite mich auf das geplante Arzt-Gespräch mit Reflexion vor:
Was? Wo? Wie? Wodurch? Warum? Wann? Wozu?
Um meine Antworten deutlich genug vorbereiten zu können, muss ich mir immer über die unterschiedlichen Möglichkeiten des Verstehens im Klaren sein. Unterschiedliche Individuen haben jeweils ihre eigenen Interpretationen. Der Sender und der Empfänger von Nachrichten haben jeweils ihre eigenen Vorstellungen von der Sache. Oft weiß ich selbst nicht, wie ich die Sache deuten, gedanklich übertragen oder darüber informieren soll.
Auch der Hörer als Empfänger der Botschaft deutet diese auf seine Art und Weise. Er weiß oft nicht mal die Richtung seiner Interpretation. Im Nachhinein weiß er nicht einmal warum er zu dieser Deutung gelangt ist. Man spricht hier von der doppelten Kontingenz.
Für beide Gesprächspartner gibt es genügend Möglichkeiten Vorstellungen, Interpretationen und unterschiedliche Intensitäten um das Ausmaß der Beschwerden zu beschreiben. Wie beide ihre jeweiligen Deutungen wählen, ist kontingent. Das heißt alle Möglichkeiten sind diesbezüglich offen.
Wie bekommen wir diese Kontingenz reduziert?
Wir wissen von vornhinein nicht, wie der andere denkt und wissen oft nicht wie wir zu den Gedanken kommen. Wir sind aber in der Lage vieles zu reflektieren.
Wir können uns fragen, was wir für Beschwerden haben. Verallgemeinerungen helfen hier wenig. Wir können in unsere Gedanken und Wahrnehmungen eintauchen und uns selbst fragen, wie die Beschwerden sich „wirklich“ äußern.
Wir können uns präziser fragen, was unsere Beschwerden ausmacht, wie sich diese anfühlen und wodurch sie (aus unserer Sicht) ausgelöst werden.
Wenn wir uns nach dem „Wann“ fragen, wird uns bewusst, dass eine Verallgemeinerung wie zum Beispiel „immer“ nicht hilfreich und nicht zielführend sein kann. Die Frage nach dem „Wann“ ist eine Frage nach dem zeitlichen Zusammenhang. Es könnte sein, das für sie „immer“ ein tägliches Auftreten bedeutet. Für den Hörer impliziert diese jedoch eine andere, unterschiedliche Interpretation wie zum Beispiel das ununterbrochene Auftreten der Beschwerden wie zum Beispiel ununterbrochene Ganztagsschmerzen, beim Gehen und Sitzen, beim Stehen, Schlafen ect.
Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass unsere Informationen einen großen Einfluss auf den Gesprächsverlauf (nicht nur im Gespräch mit dem Arzt) haben. Im Gespräch mit dem Arzt haben diese Informationen einen erhabenen dienlichen Zweck. Diese sind für die Stellung Ihrer Diagnose unerlässlich.
Die Diagnose ist in der Medizin sehr hilfreich, um geeignete standardisierte und erfahrungsgeleitete Therapien planen zu können. Auf Ihr Mitwirken kommt es an. Wenn der zeitliche Zusammenhang präzisiert werden kann, wird die Diagnosefindung einfacher.
Wenn Frau Peters statt „immer“, “ immer nachts“ und „oft“ nach längerem Sitzen und zwar spät abends“ präzisiert hätte, käme der Untersucher wahrscheinlich viel schneller auf die Idee die Verdachtsdiagnose RLS (restless legs Syndrom) zu stellen. Wenn sie erwähnt hätte, dass Bewegungen zur Verbesserung der Beschwerden führten, wäre die Diagnose schneller gestellt worden. Die Mediziner hätten nicht das ganze Jahr gebraucht diese Beschwerden in die richtige Kategorie zu ordnen, sondern wären wahrscheinlich viel kürzerer Zeit zu einer Diagnose gekommen. Viel kürzer bedeutet mehr Sicherheitsgefühl für Patient und Arzt und weniger Leid für den Betroffenen.
Denken Sie bitte daran, dass auch Ärzte Menschen sind und ihre eigenen Therapieerfolge sie stolz machen und ihnen die nötige Anerkennung geben. Menschen streben nach Anerkennung. Nach vollbrachten anerkannten Leistungen sind sie bereit noch besseres zu leisten. Vom Erfolg einer Behandlung profitieren beide. Der Patient durch weniger Leid und der Arzt durch mehr Arbeitsfreude.
Dass der Patient kein Arzt ist und sein muss, ist uns allen klar. Es ist nicht die Aufgabe des Patienten eine Diagnose zu stellen. Die Aufgabe des Patienten besteht darin mitzuwirken und somit die Ärzte zu unterstützen. Selbstwirksamkeit ist nicht anstrengend, sondern durch Achtsamkeit realisierbar. Die Achtsamkeit ist wie ich meine Beschwerden getreu wahrnehme und beschreibe. Ich verliere dabei aber nicht aus den Augen, wie andere meine Äußerungen deuten könnten.
Erstaunlicherweise sind die Schmerzen und Missempfindungen bei Frau Peters streng einseitig (in dem bereits operierten Fuß). Diese traten unmittelbar postoperativ in dem Bereich der operierten Stelle auf. Erstaunlich ist auch, dass diese Symptome von Beginn an täglich und nicht sporadisch oder phasenweise erlebt werden. Auch an Intensitäten haben diese im Verlauf keine Veränderung erfahren.
Was nicht unterschätzt werden darf, ist der zeitliche Zusammenhang. Die Verschlimmerung der Symptome traten immer wenn die Patientin in den abendlichen und nächtlichen Stunden zur Ruhe kam auf. Diese Feststellung führte zu den nächsten Fragen, ob der Schlaf dadurch beeinträchtigt ist und ob eine Tagesmüdigkeit sich bereits manifestierte.
Die Bejahung dieser beiden Fragen führte zum verdächtigen aber atypischen RLS. Atypisch deshalb, weil es mit Schmerzen von der Operationsstelle ausstrahlt und mit einem Schwellungsgefühl im ganzen Fuß und einem Ziehen bis in die Wade einhergeht.
Zwei Schritte sind unternommen worden, um diesen Verdacht nachzugehen. Die Diagnostik wurde vertieft und eine Polysomnografie wurde durchgeführt.
Eine Polysomnografie ist eine Untersuchung des Schlafes mit der Bewertung von unterschiedlichen Parametern, die teilweise auch miteinander zusammenhängen können.
Bei Frau Peters zeigte die Untersuchung deutliche Hinweise für kurze, wiederholte Aufweckreaktionen aus den Tiefschlafphasen im Zusammenhang mit den gleichzeitig registrierten, reichlichen Muskelbewegungen im rechten Unterschenkelmuskel.
Diese Befunde korrelieren mit den Symptomen von Frau Peters, rechtsseitige Missempfindungen (Schmerzen) im Fuß und Unterschenkel. Diese deuten bei Würdigung der Anamnese und sonstigen Untersuchungsbefunden (keine neurologische Auffälligkeiten) auf die deutliche Existenz eines RLS (das Syndrom der unruhigen Beine) hin.
Im zweiten Schritt wurde ein Therapieversuch mit dem Dopaminagonisten Pamipexol 0,18 mg bis 0.35 mg gestartet.
Diese Therapie ist bereits für die Behandlung der parkinsonschen Erkrankung etabliert. Beim Parkinson-Syndrom verbessert das Medikament die Beweglichkeit der bewegungsarmen Parkinsonbetroffenen.
Beim RLS führt diese Therapie in unerklärlicherweise zur Reduktion der Hyperaktivität in den betroffenen Muskelgruppen, so dass an RLS Leidende ihre Beschwerden nicht mehr spüren, dadurch gut schlafen und am nächsten Tag erholsam aufwachen.
Frau Peters erfreute sich der angepassten Therapie und konnte mit einer Dosierung von 0,35 mg Pramipexol die Nächte gut durchschlafen.
Eine Kausalität zwischen dem RLS und dem Hallux selbst, beziehungsweise postinterventionell nach der durchgeführten Operation, kann hier nicht festgestellt werden. Das Zusammentreffen der beiden Erkrankungen örtlich im rechten Fuß und zeitlich unmittelbar nach der Operation scheint eher ein Zufallsereignis zu sein.
Vermutlich war RLS schon lange vor der Operation passiv (nicht wahrnehmbar) vorhanden und manifestierte sich erst nach der längeren postoperativen Ruhephase. Es wurde aktiv, so dass Frau Peters dieses erst jetzt wahrnehmen konnte. Denn die eindeutig hohe Präsens von Muskelzuckungen in dem abgeleiteten Schlaf hat wenig mit einer kurzen RLS-Anamnese zu tun. Solch sehr hoher PLM-Index (periodische Beinbewegungen im Schlaf) deutet eher auf ein bereits länger bestehendes RLS hin.
Für Frau Peters ist es relativ gesehen glimpflich ausgegangen. Nach einjährigem Leiden konnte sie ihre Lebensqualität wieder erlangen. Andere Betroffene haben leider eine Odyssee von bis zu 25 Jahren Leid hinter sich, bis ein Arzt diese Beschwerden richtig diagnostizieren und therapieren konnte.