Soziale Ansteckung und eine Änderung der politischen Landkarte
Wie kann es sein, dass Menschen sich von den Emotionen anderer beeinflussen lassen und sich (fast) aufopfernd für bestimmte Führerpersönlichkeiten hingeben? Wie können Menschen sich so gruppieren, um bestimmten Führungstypen (fast) bedingungslos zu folgen, trotz der Gefährdung in Selbstaufgabe mit Akzeptanz von Fremdbestimmung zu verfallen? Was macht Menschen und ausgerechnet solche, die in Demokratien nichts anders als die Wahrung ihrer Selbstbestimmung erlebt, gelebt und genossen haben so gefügig? Sie gehen so weit und verinnerlichen den Glauben an eine bestimmte für sie „unbestrittene“ Person, eine für sie „freiheitsschenkende“ Partei oder einen „erhabenen“ Führungstyp oder ein „erlösendes“ Führungsprinzip bis zur freiwilligen fast bedingungslosen Gefolgsamkeit mit aufgehobener selbstkritischer Haltung. Sie gehen so weit, ignorieren, verdrängen und bagatellisieren fast alles, was für Kontrahenten und Beobachter als Gefährdung in katastrophalem Ausmaße wahrgenommen wird. Sie gehen so weit und ignorieren alle möglichen augenscheinlichen Gegenargumente und finden für alles Mögliche nur eine verleugnende Antwort, die postfaktisch mit Alternativfakten erscheint.
Die soziale Ansteckung führt dazu, dass Emotionen unabhängig von ihren Ansteckungsmechanismen kontagiös (ansteckend) ähnlich der Infektionsübertragung wirken und ähnlich einer Epidemie bei Masseninfektionen zur Massenhysterie führen. Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer hat in seinem Editorial in der Fachzeitschrift Nervenheilkunde 5/2017 Verhaltensweisen wie z.B. Juckreiz oder Gähnen, das bloße Erleben von sozialer Isolation, Emotionen als Gefühlserlebnisse wie Unmut oder Heiterkeit, Verhaltensmuster der Finanzwelt, Aberglauben wie die Auferstehung von Toten oder die Hexenjagd in ihren Ansteckungspotentialen verglichen und auf ihren negativen Auswirkungen hingewiesen. Eine schauderhafte Geschichte des Jahres 1856 in Südafrika beschreibt die Tragik einer im sozialen Sinne ansteckungsbedingten Massenhysterie, die zur Tötung von 400.000 Tieren führte. Ein damals ca. 15 Jahre altes Mädchen namens Nongqawuse erzählte ihren Onkel von Geistern, die sie am Teich gesehen hätte, die dem Mädchen den Auftrag gegeben hätten, ihren Stamm von ca. 100.000 Menschen eine Botschaft zu erbringen, dass die Toten auferstehen würden, wenn der Stamm alle in seinem Besitz befindlichen Tiere töten würde. Nachdem der skeptische Onkel sich vergewissern konnte, wurde die Nachricht glaubhaft. Das führte zur Massenhysterie und infolgedessen zur Hungerkatastrophe und zum Sterben von mehr als Dreiviertel des Stammes (80.000 Menschen).
Hauptfaktoren von politisch motivierten sozialen Ansteckungen sind Emotionen mit v.a. Gefühlen von Angst, Wut, Stolz und Scham. Mit dem Schüren von Ängsten, dass ohne diese vermeintlich „außergewöhnliche“ autokratische Persönlichkeit oder diese „außergewöhnliche“ autokratisch untermauerte Ideologie nur mit wirtschaftlichen und sonstigen Nachteilen zu prophezeien.
Es wird einfach nur gepokert. Mit Wutforcierung wird der Ärger von Bürgern über wirtschaftliche und/oder politische Missstände und Benachteiligungen (auch die, die politisch ungewollt sind) als Joker benutzt. Mit der Vermittlung von Gefühlen des Stolzes wird die Identität neu definiert oder modelliert und nationalistische Parolen gepriesen. Scham wird bei Nichtbefolgung vermittelt, so dass Menschen, sich gefordert und gefördert fühlen sich der Gruppe oder der allgemeinen Meinung anzupassen. Sie werden gescheucht sich der vermeintlich tollen politischen Kultur anzunähern und ihre Einstellungen mit der Einstellung der dominierend-manipulativ wirkenden Autokratie zu synchronisieren.
Die aus Einzelnen bestehende Gruppe forciert diese Tendenz der Anpassung mit Improvisationen, welches ein orchestermäßiges und harmonisch-agierendes Ganzes bildet. Aus diesen Emotionen resultiert das Gefühlserleben Angst das bereits Gefühlte wie z.B. der neue Stolz oder das neu erworbene Selbstwertgefühl zu verlieren. Angst lähmt. Angst lässt die Aufmerksamkeit scharfsinnig aber nur eng fokussiert werden. Angst lässt wenig Spielraum für ein weitsichtiges oder laterales Bemerken, so dass durch eine besondere kognitive Enge, die für Verständigung unabdingbare Kreativität unterbunden werden kann. Schon ein Hauch an Kritik aus den eigenen Reihen verursacht eine verstärkte Angst eine weitere Verengung der Kognition und eine Blockade der Kreativität. Diese Angst unterbindet Möglichkeiten des freien Denkens und des Brain-Storming. Die automatische intuitive Aktivierung des Mandelkerns als Zentrum des Angsterlebens zeigt die Schwierigkeit ein bewusstes Verstehen zu ermöglichen. Seit Le Bon ist Angst massenpsychologisch ein gravierender Ansteckungsfaktor.
Die Verständigung mit einem emotional Angesteckten ist aus diesem Grunde erschwert. Die Angst diese meist neu erworbene Einstellung zu verlieren blockiert die kognitive Bearbeitung, so dass die Kommunikation mit nicht gleichgesinnten schwierig bis unmöglich wird. Denn die Kommunikation gestaltet sich in einer allgemeinen Begegnung anders als uns kommunikationstheoretisch erklärt wird. Menschen verhalten sich in der Regel kommunikativ mehr agierend und weniger reagierend. Der Angesteckte wird auf seine Einstellung wütend bzw. entschlossen beharren oder sich aversiv vom Gesprächspartner mit Kränkung distanzieren. Sympathisanten sind an Hand ihrer emotionalen Anpassung durch ihre Gestik, Mimik und Äußerungen zu charakterisieren, um sich mit der Gruppierung zu homogenisieren. Hier ist die Effizienz der Gruppe in agierender Form deutlich gesteigert mit dem Risiko einer gesellschaftlichen Pathologie.
Diese schwer korrigierbare Gruppenmeinung hat weitreichende gesundheitliche Auswirkungen. Der Verlust des Arbeitsplatzes bei Restriktionen, Verleumdungen und Bestrafungen durch das üblicherweise paranoid-misstrauische Verhalten von Autokraten führt zu finanziellem Ruin und zur eventuellen gesellschaftlichen Benachteiligung und Verachtung, so dass Familien unter den Repressionen leiden. Die Folge ist im medizinischen Sinne gravierend. Die Kinder von ausgegrenzten Familien könnten in ihren Schulen gemobbt werden. Frauen könnten sich isoliert fühlen, zumal diese die Veränderung der sozialen Lage ausgleichen müssen. Männer neigen zum Rückzug oder zur Flucht. Krankheiten können körperlich, psychisch und psychosomatisch präsent werden oder zunehmen. In Gefängnissen erleben Menschen ihre Traumata und müssen mit ihren posttraumatischen Erlebnissen leben. Die Trennung von der Familie durch Haft oder Flucht können nur die wenigsten verkraften, so dass Resignationen und suizidale Tendenzen folgen können.
Die Lösung liegt in der Bildung
Menschen müssen immer wieder und bereits in jungen Jahren vor Polemik, Nationalismus und Angstmacherei gewarnt werden. Stolz kann man nur als ein „Gut-Mensch-sein“ richtig erreichen. Den Stolz kann nicht die Gruppenzugehörigkeit oder die soziale Identität bewirken. Der Stolz ist eine Frage der Haltung. Die Haltung kann nie anders sein außer Menschen als Menschen mit bedingungsloser Akzeptanz, Wertschätzung und Annahme zu begegnen, zu respektieren, zu achten und ihnen jede nötige Hilfe anzubieten. Stolz kann nur durch eine echte Empathie entstehen. Eine Empathie, die nicht alleine aus dem Verstehen entspringt, sondern auch aus der Fähigkeit zum Mitmenschlichen resultiert, ist eine erlernbare Fähigkeit. Die Aufklärung ist eine lehrreiche Methode der Empathieentwicklung.
Die verständliche Wut von Bürgern kann durch die konsequente gesellschaftliche Solidarität, bessere Wahlmöglichkeiten mit menschlichen Ansätzen und durch eine echte Demokratie neutralisiert werden. Ängste können nur durch den freien Willen massiv abgebaut werden. Nicht mit Autokraten.